Im Beispiel-Lektorat geht es heute um einen Text aus dem Sub-Genre Urban Fantasy.
In der Urban Fantasy ist die Stadt ein zentrales Element. Sie schafft den Rahmen für die Geschichte und ist gleichzeitig Teil der Handlung.
Auch in der Urban Fantasy kommen – wie in Fantasy allgemein – fiktive Elemente wie Magie oder übernatürliche Kräfte vor. Die Handlung ist oft an Kriminalromane angelehnt. Aber genug der Vorrede, los geht’s!
Das schwarze Herz der Seelen
Schatten
Sie kommen in unsere Welt, aus den Tiefen eines jeden Alptraums. Auf Schiffen, die das Zeichen der widerlichen Sonne tragen, Schwarzkünstler und Seelenfänger steuern sie, schicken sie mit todbringender Absicht auf Missionen.
Sie sind die skrupellosen, schemenhaften Schatten der Unterwelt, die furchterregenden Gutenachtgeschichten.
Schwebende Kreaturen in zerrissenen Umhängen, als Körperschaften getarnte Monster. Bizarre Wesen von beachtenswerter Gehässigkeit aus den Abgründen der Welten. Sie sammeln sich in dunkeln Gewölben unter der verdorbenen Erde unserer Wälder und Berge. Sie haben tausende Jahre gewartet, doch jetzt rühren sie sich wieder. Geweckt vom Flüstern und Gesang, nach dem sie sich so lange gesehnt haben.
Ihre Augen sind auf Pines Harbor gerichtet, denn hier ruht das Unaussprechliche. Welches flüstert und singt, dass sie einst fesselte und nun wieder befreien wird.
Prolog
Alex erwachte aus einem schrecklichen Traum, doch das was folgte, war um ein Vielfaches hässlicher, – es war die Realität.
Der vom Himmel stürzende Regen prasselte unaufhörlich gegen die Scheiben des Busses, in dem er saß. Er blickte hinaus und sah verschwommen sein Gesicht, welches sich im beschlagenen Fenster spiegelte.
»Wer bist du?«, flüsterte er leise vor sich hin. Panik kroch in ihm hoch, er spürte, wie sich kalter Schweiß seinen Weg unter den Achseln nach vorn bahnte. Er fuhr sich mit seinen schweißnassen Händen durch sein schulterlanges, schwarzes Haar. Jetzt erst bemerkte er, dass er sich in einem fahrenden Bus befand.
Wo fahre ich hin? Woher komme ich?
»Hier stimmt was nicht« sprach er. Erschrocken über die Tatsache, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, wer er war, sprang Alex auf. Er sah sich um, im Bus saßen halbes duzend Fahrgäste, einige glotzten ihn an, andere sahen aus dem Fenster in die Nacht. Eine ältere Dame, welche auf der anderen Seite des Busses ihren Platz hatte, sah ihn verständnisvoll an.
»Junger Mann, was fehlt Ihnen?« Alex sah sie verzweifelt an, »Ich glaube ich werde verrückt«, antwortete Alex ihr in der Hoffnung Hilfe zu finden. »Das tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen«, sprach sie und wandte sich wieder ab.
Enttäuscht nahm Alex wieder Platz, er kniff die Augen zu und presste seine Hände fest gegen seinen Kopf, als wäre das eine Möglichkeit seinen Verstand wieder zu aktivieren. Die Aktion war vergebens, Alex starrte auf eine kleine Schweißpfütze, die sich zwischen seinen Füßen gesammelt hatte. Es war sein Schweiß, der ihm im Sekundentakt von der Stirn über die Wangen hinunter tropfte.
Unter dem Vordersitz fiel ihm eine Zeitung auf, er griff nach ihr und überflog die schwarz gedruckten Wörter auf dem Papier in seinen Händen. Alles war ihm bekannt, das Trump Präsident war und ein Wal kein Fisch. Doch wo er wohnte oder ob er Familie hatte, wusste er nicht.
Denk nach! Denk nach – los mach schon, nichts, – nur Leere. Vielleicht hatte ich einen Unfall, oder ich bin ein Serienmörder auf der Flucht, der einen Unfall hatte. Ein Schlaganfall, bestimmt so etwas? Lauter vollkommen bizarre Gedanken schossen durch sein Hirn.
Über knarzende Lautsprecher sprach der Fahrer einige Worte: »Verehrte Fahrgäste, wir erreichen in wenigen Minuten Augusta, dort legen wir eine 15 minütige Pause ein.« Kurz darauf rollte der Bus zu seinem Platz im Bushof und kam unter lautem Quietschen zum Stehen.
Alex beschloss, wie die meisten Fahrgäste auch auszusteigen, womöglich würde er hier Hilfe finden. Er trat durch die Türe ins Freie, es war eine trübe Sommernacht. Leichter Sprühregen schwebte in sein Gesicht, es war ein angenehmes Gefühl. Für Sekunden empfand er Frieden.
Doch was sollte er wem erzählen? Er verspürte das Bedürfnis sich zu erleichtern, instinktiv griff er in seine Hosentaschen und fummelte einen Quarter heraus, zahlte und betrat die Sanitäranlage. Nachdem er seine Notdurft verrichtet hatte, wusch er seine Hände. Dabei hatte er zum ersten Mal die Gelegenheit, sich selbst klar und deutlich im Spiegel zu betrachten. Er trug schulterlanges schwarzes Haar, dazu einen fünf Tage Bart, bei dem das Kinnhaar länger vorstand als der Rest. Graue Augen starrten ihm entgegen, – eine einzigartige Farbe, die seinem Gesicht das gewisse Etwas verlieh.
Die schwere Outdoorweste, welche er trug, fiel ihm jetzt erst auf. Sie ließ ihn wieder hoffen. Es gab eine Anzahl von Taschen und Fächern mit Reißverschlüssen. Schnell zog er die Weste aus und durchwühlte das Innere der ersten Taschen. Nicht ohne von den anderen Besuchern fragend beäugt zu werden.
Alex fischte einige wasserdichte Tüten hervor. Voller Neugier studierte er den Inhalt, – es waren Papierschnipsel. Schnell fummelte er diese heraus und betrachtete sie.
Pines Harbor
Pater Clark
Pines Harbor Church
Lady Louis
Keiner dieser Namen löste eine Wirkung in ihm aus. Alles war ihm fremd, – der Ort, die Kirche, die beiden Personen, – doch etwas musste es ja zu bedeuten haben. Wieso sonst sollte er ausgerechnet diese Notizen mit sich führen?
Lektorat
Was erfahren wir?
In einer vorangestellten Szene sammeln sich dunkle, alptraumhafte Mächte. Ihr Blick geht in Richtung Pines Harbor, einem Ort, dessen Bedeutung vorerst im Dunkeln bleibt.
Alex, die Figur im Hauptteil, erwacht und findet sich in einem fahrenden Bus wieder. Er hat keine Erinnerung daran, wer er ist. Auf Notizen, die er in seiner Tasche findet, sind Namen und Orte notiert. Einer dieser Orte ist Pines Harbor.
Der Anfang
Ein Prolog steht als Einleitung oder Vorrede am Anfang einer Erzählung. In der vorliegenden Gechichte wird der zweite Teil mit Prolog überschrieben. Ohne die weitere Handlung zu kennen, würde ich dazu raten, den ersten – dystopischen – Teil zum Prolog zu machen und die eigentliche Romanhandlung mit dem zweiten Abschnitt beginnen zu lassen. Auch Darstellung, Beschreibung und Charakterisierung des Protagonisten deuten darauf hin, dass die eigentliche Story mit dem zweiten Teil beginnt.
Auf Schiffen, die das Zeichen der widerlichen Sonne tragen, Schwarzkünstler und Seelenfänger steuern sie, schicken sie mit todbringender Absicht auf Missionen.
Der selten gewordene Begriff Schwarzkünstler steht für zweierlei Künste: Zauberei und die Buchdruckerkunst. Die meisten Leser werden die schwarze Kunst assoziieren und damit vermutlich richtig liegen.
Die Schwarzkünstler (und Seelenfänger) steuern Schiffe und schicken diese gleichzeitig auf todbringende Missionen. Das passt nicht ganz, denn da die Steuerleute sich auf dem Schiff befinden, können sie das Schiff nur steuern, aber nirgendwo hinschicken. Als aktive Teilnehmer brechen sie zu Missionen auf.
Ihre Augen sind auf Pines Harbor gerichtet, denn hier ruht das Unaussprechliche. Welches flüstert und singt, dass sie einst fesselte und nun wieder befreien wird.
Bei diesem Satz würde eine Wort-Umstellung für ein besseres Verständnis der Zusammenhänge sorgen.
Ihre Augen sind auf Pines Harbor gerichtet, denn dort ruht das Unaussprechliche. Es flüstert und singt, einst fesselte es sie, nun wird es sie wieder befreien.
Figur und Charakteristik
Der vom Himmel stürzende Regen prasselte unaufhörlich gegen die Scheiben des Busses, in dem er saß. Er blickte hinaus und sah verschwommen sein Gesicht, welches sich im beschlagenen Fenster spiegelte.
Der Regen prasselt gegen die Scheiben und Alex blickt hinaus. Folglich sitzt Alex im Bus. Der Zusatz „in dem er saß« sollte deshalb entfallen. Er ist eine versteckte Rückversicherung an die Leser und an dieser Stelle redundant.
Er trug schulterlanges schwarzes Haar, dazu einen fünf Tage Bart, bei dem das Kinnhaar länger vorstand als der Rest.
Das schulterlange Haar wird beim Blick aus dem Busfenster erwähnt und dann im Sanitärraum auf der Raststätte noch einmal wiederholt. An einer der beiden Stellen sollte das Haar gestrichen werden. Es könnte durch ein weiteres charakteristisches Merkmal der Figur ersetzt werden.
Graue Augen starrten ihm entgegen, – eine einzigartige Farbe, die seinem Gesicht das gewisse Etwas verlieh.
Was genau ist das gewisse Etwas? Der Ausdruck überlässt dem Leser die Interpretation. Normalerweise ist das keine schlechte Idee, aber das gewisse Etwas ist blass und sagt im Rahmen der Story zu wenig aus. Meine Empfehlung wäre, stattdessen mit einem Bild zu arbeiten. Vielleicht sind es Wolfsaugen, die dem Gesicht einen gehetzten, kämpferischen, angriffslustigen, usw. Ausdruck verleihen?
Er verspürte das Bedürfnis sich zu erleichtern, instinktiv griff er in seine Hosentaschen und fummelte einen Quarter heraus, zahlte und betrat die Sanitäranlage. […] Die schwere Outdoorweste, welche er trug, fiel ihm jetzt erst auf.
Beides passt nicht zum Setting und ist wenig glaubhaft. Besorgt, fast panisch, findet Alex sich als Fahrgast wieder. Wer bin ich, wo bin ich, was mache ich hier? In einer solchen Situation gilt der erste Griff der eigenen Kleidung. Jacke, Hose, Hemd – alles wird durchsucht, um Zeichen, Hinweise oder Spuren zu finden, die das Rätsel der fehlenden Erinnerung lösen könnten.
Mein Rat wäre, ihn die Gegenstände vor dem Aussteigen – noch im Bus – finden zu lassen und die Szene auf der Raststätte entsprechend zu ändern. Zu den Papierschnipseln komme ich gleich noch.
Logik und Stringenz
Eine ältere Dame, welche auf der anderen Seite des Busses ihren Platz hatte, sah ihn verständnisvoll an. »Junger Mann, was fehlt Ihnen?« Alex sah sie verzweifelt an, »ich glaube ich werde verrückt«, antwortete Alex ihr in der Hoffnung Hilfe zu finden. »Das tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen«, sprach sie und wandte sich wieder ab.
Die ältere Dame schaut verständnisvoll und spricht die ihr fremde Figur mitfühlend an. Sekunden später spricht sie knapp, andeutungsweise sogar barsch und wendet sich wieder ab. Ist das realistisch? Ich meine, nein.
Für die Atmosphäre im Bus sind drei Szenarien denkbar:
- Die Fahrgäste sind ablehnend bis feindselig
- Sie sind freundlich und hilfsbereit
- Eine Mischung aus beidem
Wenn gezeigt werden soll, dass die Insassen abweisend und desinteressiert sind, dürfte zuvor nicht die Hilfsbereitschaft der alten Dame betont werden. Beides zusammen passt nicht.
Geht es darum, die Mitreisenden als grundsätzlich hilfsbereit zu schildern, verhält sich die Dame wiederum viel zu barsch. Ihr Mitgefühl könnte unterstrichen werden, indem sie ihm zwar nicht helfen kann, stattdessen aber einen Apfel, Schluck Wasser, ihr Handy, usw. anbietet.
Mein Rat wäre, die Papierschnipsel schon in dieser Szene zu bringen. Alex könnte aufstehen und durch den Bus wandern. Er hält zwei, drei Fahrgästen die mysteriösen Zettel vor die Nase und versucht auf diese Weise, mehr über das Rätsel zu erfahren.
Im Subtext dienen die Reaktionen der Mitreisenden auch dazu, die Situation für den Leser einzuordnen. Geht eine Gefahr von den anderen aus, stecken alle unter einer Decke oder ist alles ganz harmlos und für die anderen Fahrgäste nur eine gewöhnliche Reise.
Stil und Erzählstimme
Alles war ihm bekannt, das Trump Präsident war und ein Wal kein Fisch.
Der Satz ist formal und inhaltlich problematisch.
Formal müßte er lauten:
Alles war ihm bekannt, dass Trump Präsident und ein Wal kein Fisch war.
Inhaltlich: Die Zeitung meldet etwas im Zusammenhang mit Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten. Das ist ein guter Kniff, um die Story zeitlich und geographisch einzuordnen. Unwahrscheinlich ist jedoch, dass auf dem Titelblatt der gleichen Ausgabe etwas über Meeressäuger steht. Die beiden Bilder passen nicht zusammen. Als Platzhalter schlage ich eine Information aus dem US-Sport (NBA, Superbowl, etc.) vor, mit der die zeitliche und geographische Einordnung unterstützt wird.
Keiner dieser Namen löste eine Wirkung in ihm aus. Alles war ihm fremd, – der Ort, die Kirche, die beiden Personen, – doch etwas musste es ja zu bedeuten haben. Wieso sonst sollte er ausgerechnet diese Notizen mit sich führen?
In diesem Satz wird das ja als Modalpartikel verwendet. Im realen Dialog dient ein »ja« der Schaffung einer vertrauten Atmosphäre. Es weist auf Bekanntes hin. (»Du weißt ja, wie gerne ich Rotwein mag«). Im Roman kann es als Rückversicherung des Autors an die Leser interpretiert werden. Allerdings verlässt damit auch der Erzähler seine Perspektive und wechselt von der Beobachter- in die Erklärer-Rolle. In den allermeisten Fällen – und so auch hier – sollte das ja ersatzlos wegfallen. Die Botschaft bleibt unverändert.
Schnell zog er die Weste aus und durchwühlte das Innere der ersten Taschen.
Ein kleiner Overdump, der sich hier eingeschlichen hat. Ursache dafür ist die Funktion, die der Autor für die Weste vorgesehen hat. Vermutlich werden andere Taschen im Lauf der Handlung noch weiteres zutage fördern, deshalb wurde Wert darauf gelegt, dass in dieser Szene zunächst die ersten Taschen durchsucht werden. Ändert sich inhaltlich etwas, wenn man das Wort streicht? Nein. Aber der Satz wird dynamischer.
Fazit
Passend zum Genre Urban Fantasy beginnt die Geschichte mit der Beschreibung einer dystopischen Welt.
Die erste Szene erinnert an ein Roadmovie. Das verspricht Spannung, erfordert jedoch eine stringente Handlung und durchgehende Tonalität.
Nach meinem Verständnis befindet sich das Manuskript noch in einem Frühstadium. Mit Phantasie, einem guten Plot und der passenden Schreibe kann daraus ein fesselnder Roman entstehen.
Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden in diesem Beispiel-Lektorat nicht berücksichtigt.